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Vorfreude wird überbewertet

Am letzten Tag der vergangenen Südback war es so weit: Meine ebenso kluge wie reizende Kollegin schenkte mir ihr Herz. Aber nicht, wie Sie es sich nun vielleicht vorstellen. Sie schenkte es mir nicht im übertragenen Sinne, sondern ein tatsächliches Herz – aus Lebkuchen. Ein Aussteller auf der Messe hatte Herzen mit der Aufschrift „Im Herzen Bäcker“ verteilt. Und da ich ja Bäcker ohne Backstube bin, schloss meine Kollegin folgerichtig, dass ich immer noch im Herzen Bäcker bin. Recht hat sie. Da ich zunächst vergaß, es auf der Heimfahrt abzunehmen, durfte ich mich im Zug vieler freundlicher Blicke oder hochgereckter Daumen erfreuen. Das Ansehen des Bäckers scheint in der Öffentlichkeit relativ weit oben angesiedelt zu sein. Zu Hause angekommen, zog das Herz auch die Aufmerksamkeit meiner Töchter auf sich, aber ich konnte sie gerade noch davon abhalten, es samt Aufschrift aus Zuckerguss zu verspeisen. Stattdessen hängte ich es hoch genug – für kleine Kinderhände unerreichbar – in mein Büro. Da hängt es jetzt dekorativ an der Wand. Die Köstlichkeit aus Lebkuchen hat aber offensichtlich bei meiner jüngsten Tochter einen so starken Eindruck hinterlassen, dass sie beim Besuch des Weihnachtsmarktes darauf bestand, ein ähnliches Herz zu bekommen. Voller Stolz ließ sie es sich um den Hals hängen und trug es im Anschluss freudestrahlend nach Hause. Doch anders als ihr Vater suchte sie kein angemessenes Plätzchen für ihre neueste Errungenschaft. Vielmehr dauerte es nur kurze Zeit, bis sie es nicht mehr aushielt: Sie entfernte schnell und zielgerichtet die Verpackung und vergrub dann ihre kleinen Milchzähne im süßen Lebkuchen. Innerhalb von Minuten zerstörte sie Herz und Zuckerschrift – aber nicht ohne ein sehr breites Lächeln von einem Ohr zum anderen. Die Spur von Lebkuchenkrümeln durchs ganze Haus zeugte von ihrer schieren Begeisterung. Jedem wollte sie zeigen, wie gut ihr das Lebkuchenherz schmeckte. Warum aber schreibe ich das hier? Weil ich mir – während ich die Krümel vom Boden auffegte – vornahm, mir die Idee meiner jüngsten Tochter zum Vorbild zu nehmen. Was nützt es mir, wenn mein Lebkuchenherz an der Wand hängt und mit der Zeit zunehmend in Vergessenheit gerät? Auch wenn es noch so schön ist, irgendwann guckt es sich weg, wie es so schön heißt. Und anders als bei manchem Rotwein wird der Geschmack auf Dauer auch nicht besser. Da ist es doch ratsam, gleich die Folie zu entfernen und das Herz zu genießen. Klar, Vorfreude hat auch Ihren Wert. Mancher bezeichnet sie sogar als schönste Freude. Doch nur, wenn es tatsächlich einmal zum Genuss kommt. So ist das mit so vielen Dingen. Anstatt sich der Freude im Moment hinzugeben, warten wir lieber ab. Ist das eigentlich typisch deutsch oder typisch für einen Erwachsenen? Wenn dem so ist, möchte ich lieber weder das eine noch das andere sein. Vielleicht ist das mein Vorsatz für das neue Jahr: Trau‘ dich, glücklich zu sein! Die Zeiten sind gerade nicht so, als dass wir als Bäcker vor lauter Freude eine Allee von Purzelbäumen schlagen könnten, wie es Heinz Erhard einmal formulierte. Da ist es doch sinnvoll, die Freuden, die uns begegnen, in vollen Zügen auszukosten. An dieser Stelle höre ich auf zu schreiben. Ich habe Besseres vor: Ich muss dringend das Herz meiner Kollegin vernaschen – wenn Sie verstehen, was ich meine. Für das neue Jahr wünsche ich Ihnen viel Zuversicht und Freude!