Alles hat seine Zeit

Alles hat seine Zeit

24.05.2022 | Christian Bremicker

Es ist herrlich: Endlich zieren wieder frische, rot leuchtende Erdbeerkuchen die Theken der Bäcker. Dafür zu werben, ist wahrscheinlich gar nicht nötig, da allein die saftigen Früchte einladend genug sind. Wem läuft da nicht das Wasser im Mund zusammen? Dennoch sah ich vor kurzem eine Art kleine Erdbeerkuchen-Kampagne: Eine große Erdbeere wie aus dem Bilderbuch war dort abgebildet, verbunden mit dem kleinen Wörtchen „endlich“. Das hat schon ausgereicht. Keine wortreichen Erklärungen. Ein Bild, ein Wort und jeder wusste Bescheid. Erdbeeren haben gerade Saison. Aber kann man das eigentlich noch sagen? Ist der kurze Zeitraum, in dem es bei uns Erdbeeren gibt, tatsächlich noch so kurz? Vor ein paar Monaten, es war Mitte Februar, stand ich an der Supermarktkasse. Direkt vor mir ein älterer Herr mit einer, halten Sie sich fest, Schale Erdbeeren in den Händen und die Kassiererin bewundert dieselbe mit den Worten: „Die sehen ja schon richtig gut aus!“ Doch nicht ihre Feststellung ist das Überraschende, sondern vielmehr die Antwort des Kunden: „Ja, es ist aber auch an der Zeit.“ Draußen fällt Schneeregen, die Temperatur pendelt um null Grad Celsius und am Morgen musste ich die Scheiben meines Autos kratzen. Ich schüttele mich kurz und denke dann: „Nein, es ist sicherlich nicht die Zeit der Erdbeere angebrochen!“. Ich denke es allerdings nur und verzichte auf einen nachdrücklichen Hinweis an den Erdbeerkunden, der offensichtlich von seinem Einkauf ebenso wenig Ahnung zu haben scheint, wie ein Braunbär vom Schneeschieben – weil er ja Winterschlaf hält. Andererseits sind wir auch daran gewöhnt, die ersten Spekulatius und Schokoweihnachtsmänner schon Mitte August in den Regalen des Lebensmitteleinzelhandels vorzufinden. Nebenbei bemerkt eine Zeit, die wenigstens die Schokoweihnachtsmänner ohne Klimaanlage im Supermarkt gar nicht überleben würden. Bis zum Heiligen Abend dauert es ja auch noch etwa vier Monate. Überträgt man diesen zeitlichen Abstand auf das Osterfest, so müssten die ersten Schokohasen noch auf den Weihnachtsmärkten angeboten werden. Ich bin gespannt, wann es so weit kommt. Was ich sagen will: Alles hat seine Zeit. Auch wenn es verlockend ist, der Erste zu sein, der betörenden Erdbeerkuchen in der Theke liegen hat, so wissen wir doch alle, dass die ersten Erdbeeren in etwa so schmackhaft sind, wie ein Schluck stilles Wasser. Wenn man Glück hat. Es lohnt sich, auf die richtige Zeit zu warten. Die alten Griechen hatten sogar einen Begriff für diesen Zeitpunkt: den Kairós. Er beschreibt den exakt richtigen Zeitpunkt, etwas zu tun. Nicht zu früh, nicht zu spät, sondern genau richtig. Der Erdbeerkuchen- Kairós ist kein festes Datum. Der richtige Zeitpunkt, mit dem Erdbeerkuchen zu beginnen, ist variabel. Aber als erfahrener Bäcker haben Sie das im Gefühl. Da bin ich zuversichtlich.


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