Kommentar: Heißt sechs Uhr wirklich sechs Uhr?

Kommentar: Heißt sechs Uhr wirklich sechs Uhr?

13.06.2023 | Dirk Waclawek
Neulich sprach ich mit dem Chef eines kleinen Filialbetriebs über das allgegenwärtige Thema Personal. In der Backstube suchte er händeringend nach zwei Bäckern, im Verkauf sah es besser aus: „Da haben wir zurzeit sogar eine kleine Warteliste.“ Vor einigen Wochen hatten sich drei Verkäuferinnen  eines Großfilialisten beworben, er hatte sie eingestellt und ist mit ihnen voll zufrieden – „wirklich gute Kräfte. Einer der Wechselgründe war, dass sie wieder als Verkäuferin und nicht als Bäckerin arbeiten wollten.“ Bei ihrem ehemaligen Arbeitgeber waren sie anderthalb Stunden vor Ladenöffnung ausschließlich mit Backen beschäftigt. Da konnte sie unser Bäcker beruhigen: Seine Geschäfte liegen maximal zehn Kilometer von der Backstube entfernt. In den Läden wird überhaupt nicht gebacken, selbst die Snacks werden zentral hergestellt. Für Frische sorgt die viermalige Belieferung der Filialen, die letzte Tour wird gegen 13:00 Uhr gefahren. So weit, so gut. Das mag bekanntlich jeder Betrieb so halten, wie es zu seinem Vertriebsgebiet passt. Eine Überraschung wartete allerdings im Bewerbungsgespräch noch auf unseren Bäcker. Eine Verkäuferin fragte „Wenn Dienstbeginn um 6:00 Uhr ist – wann müssen wir denn dann im Geschäft sein?“ Unser Bäcker verstand die Frage nicht ganz: „Wenn Ihr zehn Minuten früher kommt, ist das natürlich nett. Aber worauf wollt Ihr denn mit der Frage hinaus?“ Die Antwort schockierte ihn dann: Beim großen Filialbetrieb wurde von den Verkäuferinnen erwartet, dass sie um 4:30 Uhr mit dem Abbacken der Teiglinge begannen, bezahlt wurde erst ab 6:00 Uhr. Schön für den kleinen Bäcker, dem wohl demnächst noch weitere Bewerbungen ins Haus flattern. Für das Ansehen der Branche und die Beliebtheit des Verkäuferinnenberufs allerdings eine Katastrophe. Vielleicht rechnet sich der Großfilialist einmal aus, was ihn die durch sein Entlohnungsmodell verursachte Fluktuation kostet. Ich wette, die kommt ihn teurer als die korrete Bezahlung der geleisteten Stunden.
Viele Grüße
Dirk Waclawek
Chefredakteur

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