115

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22.04.2024 | Christian Bremicker

Machen wir uns nichts vor: Gäbe es eine Zeitmaschine, die es erlauben würde, einen Bäcker von 1909 in die Gegenwart zu holen, und einen unserer zeitgenössischen Kollegen 115 Jahre in die Vergangenheit zu schicken, so blieben sie zwar beide Bäcker, aber doch wären sie in der Backstube des anderen verloren. Es hat sich so viel verändert, dass man sich das Aufstellen einer langen Liste sparen kann. Ein kleines Wort reicht aus, um zu beschreiben, was diesem Wandel unterworfen war (und ist): alles. 1909 begann gerade die Phase, in der die ersten mechanischen Kneter in die Backstuben einzogen. Bis dahin wurden Teige mit der Hand im Teigtrog geknetet. Eine schweißtreibende Tätigkeit – die Älteren unter Ihnen erinnern sich vielleicht. Heute erkennt der moderne Kneter selbstständig, wann der Teig optimal geknetet ist. Und das muss er oft auch, da es häufig an Facharbeitern, unter Eingeweihten „Bäckermeister“ genannt, mangelt, die das noch beurteilen könnten. Ich will also gar nicht in den Chor derer einstimmen, die immer das Lied singen, früher sei alles besser gewesen. War es nämlich nicht. Es war anders. Klar, ich werde auch etwas nostalgisch, wenn ich an meinen Oppa denke, der seinerzeit die Zentnersäcke Mehl durch die Backstube gewuchtet hat. Wenn ich ihn aber noch fragen könnte, würde er mir bestimmt beschreiben, was das für ein Mist war. Für die Jüngeren unter Ihnen: Ein Zentner sind 50 Kilogramm, und irgendwo habe ich auch mal den Begriff des Doppelzentners gehört. Aber darüber will ich gar nicht nachdenken. Anderes Beispiel: Wenn ich mit dem Mitarbeiter spreche, der mit Abstand am längsten in unserem schönen Verlag arbeitet (Volker, Grüße gehen raus), dann berichtet er manchmal davon, wie früher die Artikel unserer Magazine und Zeitschriften geschrieben wurden. Bei den Bleilettern war er zwar nicht dabei, aber die elektrische Kugelkopfschreibmaschine hat er noch in lebhafter Erinnerung. Die bitte was? Eine Schreibmaschine kenne ich noch. Okay. Aber Kugelkopf? Guglhupf – das ist mir ein Begriff. Hat damit aber wohl nichts zu tun. Zurück zum Thema: der Wandel. Dass nichts so beständig ist wie eben jener, das wissen wir schon lange. Aber der Umgang mit dieser Tatsache erfordert etwas mehr als ein versonnenes Kopfschütteln und einen leicht verträumten Blick. Angst vor Veränderung ist wahrscheinlich menschlich. Aber hätte ich meinem Oppa damals vorschlagen können, anstelle der Schlepperei auf ein modernes Silo zu setzen, so wäre er bestimmt ins Grübeln gekommen. Jetzt ist mein Oppa für Sie relativ unerheblich. Aber der Gedanke, dass Entwicklung auch Erleichterung bringen kann, sollte es nicht sein. Dabei denke ich, bitte verzeihen Sie es mir, gar nicht explizit an Sie, sondern vielmehr an diejenigen, die für Sie arbeiten sollen. Heute einen Auszubildenden zu finden, ist schon schwer genug. Und es wird immer schwerer, je mehr sich die Arbeitsbedingungen nach 1909 richten. Oder meinetwegen 1980. Erleichterungen maschineller Natur haben wir zum Glück schon lange. Heute trägt wohl niemand mehr Doppelzentner Mehl durch die Backstube. Jetzt müssen wir die dickste Kuh vom Eis holen: die Nachtarbeit. Ich bin zuversichtlich, dass wir dazu keine weiteren 115 Jahre brauchen.


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